Gemeindebrief – Herbst 2017

Liebe Gemeinde,

früher hielt man sich für unwürdig, in eine direkte Beziehung mit Gott zu treten. Stattdessen verließ man sich meistens auf die Kirche, um eine Brücke zum Göttlichen herzustellen. Für das eigene Gebetsleben wandte man sich oft an einen von der Kirche anerkannten Heiligen, den man verehren konnte. Die Heiligen hatten selbst schon auf Erden gelebt und kannten das Erdenleid mit allen seinen Mühseligkeiten. In ihren Tugenden wie Barmherzigkeit, Tapferkeit und Mut ahnte man eine Offenbarung göttlicher Eigenschaften im Menschen. Durch diese Vermittler wurde aus dem fernen Gott ein kennbares, ja beziehungsfähiges Wesen.

Heute ist die Sehnsucht, der Anspruch auf Nähe, auf eine unmittelbare Beziehung zu dem Göttlichen unvorstellbar gewachsen. Selbst Kirchen werden zunehmend als Hindernis zu dem eigenen spirituellen Suchen erlebt. Zwischen mir und Gott soll keiner stehen. Kein Mensch, keine Institution. Zu Recht. Dies ist der Weg der menschlichen Freiheit. Und doch fühlt sich unser Zeitalter dadurch gottentfremdet an wie noch nie. Vaclav Havel sagte um die Jahrtausendwende, wir leben im ersten wirklich atheistische Zeitalter. Aber wenn wir als Menschen unseres Zeitalters alle vermittelnden Hilfestellungen ablehnen, was bleibt noch übrig auf der Suche nach Gott?

Als die Christengemeinschaft 1922 gegründet wurde, war die oben beschriebene Entwicklung schon im Gange. Nicht als Vermittler der kirchlichen Lehre soll die Christengemeinschaft auftreten, sondern in ihrer Mitte steht die stärkste aller religiösen Werte: Menschliche Erfahrung. Gott ist uns heute nicht ferner, sondern unendlich viel näher getreten. Der Kultus der CG will uns helfen, den entscheidenden Schritt zu machen: dass wir lernen, in jedem Gedanken, jeder Begegnung, jedem Ereignis unseres Tages das Sprechen eines unmittelbaren, führenden und wohlwollenden geistigen Wesens wahrzunehmen. Die Menschenweihehandlung möchte uns lehren, nicht der Kirche als solches, sondern unseren eigenen Erfahrungen mit einer gesteigerten Hingabe zu begegnen.

In jedem ehrlichen Versuch, uns dem Göttlichen anzunähern, der in Freiheit getan wird, machen wir eine neue, höhere Erfahrung: die geistige Welt kommt uns entgegen. Unsere freiheitlichen Bestrebungen werden bestärkt. Indem wir aktiv versuchen, uns Gott anzunähern, tritt Er uns entgegegn. In dieser Erfahrungen feiert der „ferne Gott“ seine Wiederkunft im Menschen.

Mit michaelischen Grüßen und im Namen des Pfarrerkollegiums

Marcus Knausenberger


Den gesamten Gemeindebrief als PDF-Datei finden Sie hier.