Liebe Gemeinde,
Wenn wir einmal auf die uns umgebende, belebte Natur schauen, sehen wir als ein großes Reich die Welt der Pflanzen vor uns. Es gibt eine Überfülle von Arten und Sorten, alleine schon beim Obst. Wir kennen hier bei uns nur eine kleinste Auswahl. Die Pflanzen leben ganz aus dem Vererbungsstrom, und so vielfältig sie auch sind, sich unterscheiden, z.B. eine Rose von der anderen, haben sie doch nichts Individuelles. Bei den Tieren kommt zur Vererbung noch die Sozialisation hinzu. Wie eine Katze aufwächst, in welcher Umgebung, welche Erfahrung sie macht, prägt sie und macht sie eigen. Dennoch gehören alle Katzen, so unterschiedlich sie sich auch darleben, doch der Gattung, der Art „Katze“ an.
Wie ist das bei uns Menschen? Auch wir gehören alle zur Gattung „Mensch“, haben einen Vererbungsstrom aus dem wir kommen, werden sozialisiert, geprägt durch die Menschen, die Umgebung, die Kultur, die äußeren Einflüsse, die wir erleben. Wir alle sind Menschen. Das eint uns. Rudolf Steiner spricht nun verschiedentlich darüber, dass aber jeder Mensch eine eigene Gattung ist, eine eigene Art. Dieser bahnbrechende Gedanke verändert eigentlich alles bisher Gewesene.
Letztlich schauen wir auf andere Menschen meistens ja aus unseren eigenen Erfahrungen, Vorstellungen und Idealen. So hört man öfter den Satz, dass dieser oder jener Mensch ganz vom Weg abgekommen sei – oder man gibt Ratschläge, die eben auch ganz aus dem Eigenen kommen: Würde er nur dies oder jenes anders machen, so würde er besser zurechtkommen, müsste nicht immer wieder scheitern, oder diese Fehler machen.
Im Beschäftigen mit den Biographien bekannter und unbekannter Persönlichkeiten kann einem manches aufgehen. Wenn man den „roten Faden“ eines Menschen durch sein Leben aufmerksam verfolgt, wie er aufwuchs, wie seine Vorfahren ihn prägten, sein Umfeld Einfluss genommen hat, wie er sich vielleicht dennoch ganz anders entwickelt hat, sein Leben gestaltet hat, Fehler begangen hat, daraus gelernt hat oder eben nicht, kann sich eine Spur seiner Individualität, seines Kerns, zeigen, der sich in seiner individuellen Biographie darlebt.
Die Frage: „Warum“ sich dieses oder jenes in seinem Schicksal ereignet, warum er Erfahrungen machen muss, Fehler und sog. Abirrungen erleben muss, kann zu der Frage: „Wozu“ verwandelt werden. Denn was durch jeden von uns Menschen offenbar werden soll, was der Einzelne zu entwickeln hat, kann so von außen gar nicht beurteilt werden (siehe der Blindgeborene im Johannesevangelium, Joh. 9,1).
Alles was ein Mensch getan und auch nicht getan hat, wie er dachte, aus welchen Idealen er lebte, ist einzigartig und kann nie verglichen werden. Jeder von uns ist fähig, Vererbung und Sozialisation zu überwinden, ganz andere Wege zu gehen, als die Vorfahren und Menschen in seiner Umgebung. Wir können frei werden von unserer Prägung. Es ist das Geheimnis des Ich, das sich in jedem von uns ausspricht und darlebt.
Um sich dem zunächst verborgenen Ich eines anderen Menschen annähern zu können, muss ich lernen, mich, man könnte sagen, zu „reinigen“. Alles zurück zu lassen, was ich selber denke, meine Vorstellungen, wie Leben geht, wie einer zu sein hat. Das ist eine allerhöchste Herausforderung, denn alles muss neu werden, oder besser: Alles muss durch das Nadelöhr hindurch! Und das ist richtig Arbeit, schmerzvoll, weil alles da hindurchmuss, alles zurückgelassen werden muss. Denn so vieles hindert uns, weil unsere Seele voll von Vorstellungen ist, wie etwas, jemand zu sein hat. Wie man sich verhalten muss, ob sich einer mehr anstrengen sollte, oder endlich mal weniger tun sollte.
Doch keiner kann aus diesen alten Vorstellungen heraus wissen, wie ein anderer Mensch zu sein hat. Durch die Katharsis, die Reinigung der eigenen Seele, durch Umschmelzen von eigenem Denken, von Empfindungen und Willensimpulsen, kann die Seele den freien Blick erüben, so auf seinen Menschenbruder zu schauen, dass sie vielleicht zart ahnen kann, wie der andere gemeint ist.
Fjodor M. Dostojewski hat es einmal so treffend formuliert: „Einen Menschen lieben heißt, ihn so sehen, wie Gott ihn gemeint hat.“
Bei all diesen Prozessen kann ein Gedanke helfen: Einer steht auf der anderen Seite des Nadelöhrs, spricht uns Mut zu, winkt uns herüber: Michael, dieses hierarchisch hohe Engelwesen, das uns Menschen so nahesteht, ruft uns in diesen herausfordernden Weltentagen im Großen wie im Kleinen Tag für Tag zu: Folge mir!
Vielleicht hat man das große Glück, dass man Mitstreiter im Leben findet, Menschen, die ganz anders auch auf diesem Weg sind, die ein Herz, ein Ohr für einen haben, für mein individuelles Schicksal. Denn auch wenn wir alle diesen Weg selber gehen müssen, so ist es doch eine große Gnade, wenn wir Weggefährten finden.
Möge unsere Gemeinde ein solcher Ort werden, wo wir ein ander Weggefährten sein können, uns Trost und Mut zusprechen, wo es eng und unerträglich scheint.
In diesem Sinne grüße ich Sie herzlich in alle Winkel unserer Gemeinde,
auch im Namen meiner Kollegen, Ihre Alexandra Messias