Liebe Gemeinde,
der Umgang mit Leid ist früher oder später Bestandteil eines jeden Menschenlebens.
Siegfried, die Heldengestalt der germanischen Sage, bestreicht nach siegreich bestandenem Kampf mit dem Lindwurm seinen Körper mit dem Blut des Untiers. Dadurch wird seine Haut undurchdringlich wie ein Drachenpanzer und er wird nahezu unbesiegbar. Er scheint eine Antwort auf die Leidfrage gefunden zu haben: Willst du Leid in diesem Leben vermeiden, dann sieh zu, dass du dich unverletzlich machst! Doch es gibt – Sie kennen es ja schon – einen Haken. Während er seinen Leib mit dem Blut des Untiers bestreicht, fällt von einer Linde ein Blatt herab und landet auf seinem Rücken – genau zwischen den Schulterblättern. An dieser Stelle entsteht eine „Lücke“ in seinem Panzer, welche letztendlich verantwortlich sein wird für seinen tragischen Tod. Siegfried wollte unverwundbar sein, erfuhr aber – dadurch – tiefes Leid.
Auch wir umgeben unsere Seele oft mit einer Art Panzer, um uns zu schützen und leiden manchmal umso mehr. Unfreiwillig verletzlich sein, ist Leiden. Was aber geschieht, wenn wir uns willentlich verletzlich machen?
Die erste willentliche Lücke in unserem Panzer kann Interesse sein. Es kann auch eine Frage sein. Es kann eine Öffnung zu jemandem sein, von dem wir uns lange abgeschirmt haben. Wenn der Panzer fällt, wenn wir willentlich ungeschützt dastehen, kommt etwas Neues in die Welt. Eine Öffnung nach oben. Ein Bekenntnis zu einer schöpferischen Kraft, die nur in uns wirksam werden kann, wenn wir freiwillig das sichere Terrain der Eigenheit verlassen. Jemand, der offen und fragend durch das Leben geht, entwickelt eine Stärke, die nicht auf Unverletzbarkeit beruht, sondern in dem Mut zur Lücke, zur Schwäche, zur Unvollkommenheit, und welche das tiefste Wesen des Menschen bejaht.
Mit besten Grüßen für die Passions- und Osterzeit, auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen, Marcus Knausenberger