Liebe Gemeinde,
wenn wir an Spuren denken, stellen wir uns meist die eigenen Fußabdrücke vor, welche wir irgendwo hinterlassen, vielleicht am Nordseestrand in der Sommerzeit. Spuren haben aber immer etwas Gegenseitiges: es gibt den, der die Spuren hinterlässt und den, der die Spuren aufnimmt. Spuren zeugen von Berührung, Verbindung und Beziehung. In uns tragen wir Spuren vieler Menschen, denen wir in unserem Leben begegnet sind – wie wir in vielen Menschen auch unsere Spuren hinterlassen. Es gibt Spuren, an die wir gerne zurückdenken, und solche, die wir am liebsten ganz vergessen würden. Sie alle bilden die Grundlage unseres Gedächtnisses und damit den Kern unserer Identität.
Der renommierte Neurobiologe Eric Kandel verbrachte sein Leben mit der Suche nach einer biologischen Grundlage des menschlichen Gedächtnisses. Er wollte herausfinden, ob und wie eine durchgemachte Erfahrung bleibende physiologische Änderung in unserer Leiblichkeit verursacht. In seinem Werk „In Search of Memory“ beschreibt der Forscher einen der bedeutsamsten Durchbrüche seiner langjährigen Tätigkeit. In seinen ersten Forschungsjahren hatte er in den kleinsten Bestandteilen des Körpers – in den einzelnen Zellen – nach Zeichen der Erinnerung gesucht. Doch solange er sich auf Einzelheiten fixierte, blieb diese Suche erfolglos. Nach und nach erweiterte sich sein Blick und half ihm, die entscheidende Erkenntnis zu gewinnen: dass die Erinnerungen ihren Sitz nicht in einzelnen Zellen, sondern vielmehr in den Verbindungen dieser haben. Diese Verbindungen nennt man Synapsen (aus dem Griechischen haptein: greifen, tasten, fassen). Gedächtnis wird also im menschlichen Leib nicht vereinzelt, sondern von vielen verbundenen Zellen „gemeinschaftlich“ erzeugt und getragen.
Dies gilt auch im großen Sinne: ein Mensch trägt die Spur seiner Erfahrung nie allein. Wir tragen sie gegenseitig. Eric Kandel entdeckte Spuren des Gedächtnisses in den Verbindungen zwischen den Zellen. Vielleicht können wir, indem wir den Blick über unsere Einzelerfahrung hinaus erweitern, ebenfalls entdecken, dass sie Teil eines Ganzen ist, welches erst durch unser Verbundensein vollständig zutage treten kann. Dieses Verbundensein bildet, wie Paulus in seinem Korintherbrief beschreibt, den Leib Christi.
Mit sommerlichen Grüßen, auch im Namen meiner KollegInnen, Marcus Knausenberger