Liebe Gemeinde,
eines der prägendsten Bilder der Adventszeit ist das von Maria und dem Jesuskind, umhüllt von einem himmelblauen Mantel. Wenn ein Kind geboren wird erleben die meisten Eltern, wie sie mit einer neuen, umhüllenden Kraft begabt werden. Sie ermöglicht den Eltern, sich „identisch“ mit dem Wesen ihres Kindes zu fühlen. Das Wohlbefinden des Kindes, die Freuden und Leiden wirken auf sie unmittelbar. Durch die Geburt des Kindes können Menschen erleben, dass sie „marienhaft“ werden.
Jedes Kind, das auf die Welt kommt, ist von diesem himmelblauen Mantel umgeben. Aber – wem gehört er? Er gehört dem Kind genauso wie der Mutter.
Seinen Sitz hat er in den instinktiven Kräften des menschlichen Willens, und seine wahre Quelle liegt in der Zukunft, in dem höheren Ich, dessen Geburt in unser irdisches Bewusstsein ein langsames und schmerzhaftes Erwachen ist.
Die Kindheit ist heilig. Wir brauchen nur ein neugeborenes Kind zu betrachten, um das zu spüren. In vielerlei Hinsicht verblasst die Heiligkeit zu früh. Wir müssen alle schmerzhafte Erfahrungen einstecken, die uns zu den Unvollkommenheiten unserer Welt erwecken. Das heilige, von Schuld Unberührte verlieren wir, während wir an Individualität gewinnen – und dadurch in die irdische Existenz „hineinfallen“.
Wir können leicht glauben, dass mit dem Verlust des Unschuldigen ein wesentlicher Aspekt des Menschseins verloren geht. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Die Kraft des Mantels, die sich zuerst in der Beziehung zwischen Mutter und Kind offenbart, spiegelt sich später in der Beziehung zwischen dem Menschen und sich selbst wieder. Das „Ich bin“ gewinnt durch wachsende Mündigkeit die Herrschaft über die instinktive Natur des Menschen. Anders gesagt, das „Ich bin“ des Menschen beginnt die liebevolle Führung des erwachsenen Menschen, welche er als Kind von seinen Eltern erfahren durfte.
Auf diese Weise leuchtet das Licht des Ichs in die Dunkelheit der Seele und segnet diese mit einer Reife, die für den heilendenGeist durchlässig ist. Der Mantel der Maria wird mit wachsender Reife ersetzt durch den Mantel der Sophia, durch die göttliche Weisheit.
Herzliche Grüße für die stille Jahreszeit, auch Im Namen des Pfarrerkollegiums, Marcus Knausenberger
Richard Ulrich
Gemeindebrief – Michaeli 2024
Liebe Gemeinde,
dass das Himmelreich nahe zu uns gekommen ist, hören wir in der Johannizeit durch die Stimme des Täufers. Es wahrzunehmen und uns mit dem Himmelreich zu verbinden, ist sein Auftrag an uns: Besinnt euch darauf!
In der Sommerzeit empfangen wir die flutenden Lichtkräfte des Sonnenwesens und erleben sie leuchtend und wärmend, wirksam zwischen Himmel und Erde und in uns. Lichtkräfte tragen wir auch in unserer Seele, sie sind das Himmelreich in uns und sind mit unserem menschlichen Wesen zutiefst verbunden, mit unserem Ich. Uns dessen immer wieder bewusst zu werden, gehört zu unseren größten Aufgaben als Menschen. So können wir unseren eigenen Seelenraum ausleuchten und das anschauen, was darin lebt oder sich dort verbirgt.
Und so ist es die Aufforderung an uns in der Michaelizeit, unser Bewusstsein darauf zu richten, wofür wir uns entscheiden wollen auf unserem individuellen Weg. Michael stärkt in uns die Entscheidungskraft, und er ermutigt uns durch seine liebevolle, ernste Klarheit dazu, dasjenige, was uns zum inneren Wachsen dient, von demjenigen zu unterscheiden, was uns hindert und schwächt. Es sind die Auferstehungskräfte, die dann hereinleuchten in unsere Seele.
Jeden neuen Tag mit Geistesgegenwart zu erfüllen fordert unser Bewusstsein und unsere schöpferischen Kräfte enorm heraus! Und zugleich werden wir dadurch innerlich wachsen und immer selbstbewusster und wahrhaftiger, immer liebevoller im Miteinander unsere Lebenswege gestalten.
Mit guten Wünschen für eine kraftvolle, innige Michaelizeit grüßt Sie herzlich im Namen des Pfarrerkollegiums, Anke Nerlich
Gemeindebrief – Passion Ostern Pfingsten 2024
Liebe Gemeinde, unsere Identität ist durch unser Gedächtnis stark geprägt. Es vermittelt uns stets die Gewissheit, dass wir auf unsere bisherige Lebenserfahrung zurückgreifen können, um die Welt heute und jetzt zu verstehen. Das Gedächtnis gibt unse- rem Bewusstsein Kontinuität und verleiht uns dadurch einen festen Boden für unsere weiteren Lebenserfahrungen.
Aber was ist, wenn wir unser Gedächtnis nicht als ferti- ges, auf der Vergangenheit fixiertes Erinnerungsvermögen, ansehen? Kann es sein, dass der Christus, als er mit seinen Jüngern das erste Abendmahl mit den Worten „Tut dies in meinem Gedächtnis“ (Lukas 22:19) einleitete, auf eine ver- borgene Fakultät unseres Erinnerungsvermögens hinwies? In den Abschiedsreden finden wir dazu einige, zunächst rätselhafte Andeutungen: „Es gibt vieles, was ich euch noch zu sagen habe, aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Doch der Heilige Geist, der Beistand, den der Vater senden wird in meinem Namen, wird das Gedächtnis in euch verlebendigen, und ihr werdet verstehen lernen, was ich euch gesagt habe.“ (Johannes 16:12) Mit anderen Worten: unser Gedächtnis ist nicht nur die Grundlage unserer Identität, sondern es ist auch dasjenige, was uns inspirationsfähig macht. Der Heilende Geist mit seiner sinnstiftenden Wirksamkeit hat eine beson- dere Beziehung zum menschlichen Gedächtnis. Das Panorama unserer Lebenserfahrung können wir wie eine Inspirations- fläche betrachten, die den lebendigen Hauch des Geistes empfangen kann. Wenn das geschieht, erleben wir den Sinn von Lebenserfahrungen, die wir vielleicht nicht verstanden haben, als sie geschehen sind.
In diesem Sinne können wir die kommende Osterzeit als Chance nutzen, um das unverstandene, noch nicht durch- drungene in unseren Lebenserfahrungen als Inspirationsfläche zu betrachten und dem Licht des Geistes zu widmen.
Mit besten Wünschen für eine erfüllte Osterzeit, Anke Nerlich, Luke Barr, Marcus Knausenberger, Brigitte Olle
Gemeindebrief – Winter 2023 / 2024
Liebe Gemeinde,
jedes Jahr freuen wir uns auf Weihnachten. Und wir lassen uns auf das Ritual des gegenseitigen Schenkens und Beschenktwerdens ein.
In gewisser Weise erzählt uns dieses uralte Fest in Bildsprache viel über unser Leben. Es offenbart uns den Kontext, in dem unser Leben hier auf der Erde gelebt wird. Es offenbart uns, wie das spirituelle Universum selbst funktioniert und ‚atmet‘: im Geben oder Opfern, und im Empfangen oder Beschenktwerden. Jedes Jahr kann das Kind in uns durch das Fest des freien Gebens und des freien Empfangens stark erweckt werden. Durch es können wir den kindlichen Geist Gottes erfahren. Heraklit, der große vorsokratische Mysterienphilosoph von Ephesus, schrieb in seinen „Fragmenten“: „Die Ewigkeit ist ein spielendes Kind … das Königreich gehört dem Kind.“ Dieser Blick auf die Ewigkeit oder das zeitlose Sein kann in der Weihnachtszeit und ihrer Vorbereitung im Advent und dem Nachklang in der Epiphaniaszeit stark erlebt werden. Wir können seine erhabene Einfachheit und tiefe Schönheit in jedem Weihnachten, das „richtig“ ist, spüren.
Es scheint mir, dass dieses Kind-Königreich, dieses große Geschenk, jeden Tag, jede Stunde, wann immer wir wollen, erfahren werden kann. Wann immer wir die kindliche Größe haben, uns zu verschenken, auf das zu verzichten, was wir haben, haben wir die Chance, mehr zu „sein“. Wir opfern, und dadurch machen wir uns fähiger zu empfangen. Es ist ein Geschenk, das unser Leitstern auf der langen Reise durch das Jahr sein kann.
Im Namen meiner Kollegen wünsche ich Ihnen von Herzen alles Gute für die kommende Zeit. Luke Barr
Gemeindebrief – Michaeli 2023
Liebe Gemeinde,
im Zugehen auf die Michaelizeit erleben wir die kürzer werdenden Tage, die zunehmende Dunkelheit. Und doch bleibt die Lichtkraft noch gegenwärtig in der Sonnenwärme und in dem sich wunderbar färbenden Laub. Auch in der Fülle dessen, was wachsen und reifen konnte und nun geerntet wird ist sie erlebbar. Wenn die natürlichen Wachstumskräfte sich zurückziehen und die Verfallsprozesse immer deutlicher sichtbar werden, beginnt die Gestalt des Erzengels über dem Herbst zu leuchten. Michael ist der Engel des Lichtes. Er steht in dem Strom des Lichtes, der von dem Gottessohn ausgeht und die Menschen in ihrem Erdendasein stärkend berühren will.
Vergänglichkeit und Dunkelheit erleben wir nicht nur im natürlichen Jahreslauf, sondern in vielen alltäglichen oder in biografisch herausfordernden Lebenssituationen. Wir fühlen sie als Widerstände und können sie zugleich als Aufgaben verstehen, die sich uns stellen und die bewältigt werden wollen.
Indem wir die Fragen und Gedanken, die wir bewegen zum Geistigen hinwenden, öffnen wir uns dafür dass wir berührt werden können mit erleuchtenden Einsichten.
Wir können uns dafür entscheiden, uns dem Strom des Lichtes anzuvertrauen, der fortwährend aus kosmischen Weiten dem irdischen Leben zukommt. Dann wird der Erzengel Michael uns dabei unterstützen, zu der inneren Klarheit und Sicherheit zu finden, die uns für das Bewältigen unserer Aufgaben stärkt.
Mit guten Wünschen für eine kraftvolle Michaelizeit grüßt Sie herzlich im Namen des Kollegiums Anke Nerlich
Gemeindebrief – Pfingsten Johanni 2023
Liebe Gemeinde,
stufenweise erreicht der christliche Festkreis, beginnend mit Advent, zu Pfingsten einen Höhepunkt. Es ist das Fest des heiligen Geistes. Gerade heute ist dieses Fest in einer sich immer stärker auf die materielle Welt konzentrierenden Menschheit von großer Wichtigkeit. In Gemeinschaften können sich die zu ihrem Selbstbewusstsein erwachten Einzelnen zusammenfinden, um gemeinsam Geisterkenntnis zu gewinnen.
Unser Gemeinderat ist ein Gremium, dass grundlegende Vorraussetzungen für die Gemeindebildung im Blick hat. Er wird in diesem Jahr in neuer Zusammensetzung gewählt. Wir laden Sie herzlich zu unserer Jahresversammlung ein, die gleichzeitig ein Gemeindefest ist und in der die Wahl durchgeführt wird: ein Pfingstereignis.
Im Namen des Pfarrerkollegiums wünsche ich Ihnen einen erfüllten Sommer. Herzliche Grüße, Christian Bartholl
Gemeindebrief – Passion Ostern Pfingsten 2023
Liebe Gemeinde,
der Umgang mit Leid ist früher oder später Bestandteil eines jeden Menschenlebens.
Siegfried, die Heldengestalt der germanischen Sage, bestreicht nach siegreich bestandenem Kampf mit dem Lindwurm seinen Körper mit dem Blut des Untiers. Dadurch wird seine Haut undurchdringlich wie ein Drachenpanzer und er wird nahezu unbesiegbar. Er scheint eine Antwort auf die Leidfrage gefunden zu haben: Willst du Leid in diesem Leben vermeiden, dann sieh zu, dass du dich unverletzlich machst! Doch es gibt – Sie kennen es ja schon – einen Haken. Während er seinen Leib mit dem Blut des Untiers bestreicht, fällt von einer Linde ein Blatt herab und landet auf seinem Rücken – genau zwischen den Schulterblättern. An dieser Stelle entsteht eine „Lücke“ in seinem Panzer, welche letztendlich verantwortlich sein wird für seinen tragischen Tod. Siegfried wollte unverwundbar sein, erfuhr aber – dadurch – tiefes Leid.
Auch wir umgeben unsere Seele oft mit einer Art Panzer, um uns zu schützen und leiden manchmal umso mehr. Unfreiwillig verletzlich sein, ist Leiden. Was aber geschieht, wenn wir uns willentlich verletzlich machen?
Die erste willentliche Lücke in unserem Panzer kann Interesse sein. Es kann auch eine Frage sein. Es kann eine Öffnung zu jemandem sein, von dem wir uns lange abgeschirmt haben. Wenn der Panzer fällt, wenn wir willentlich ungeschützt dastehen, kommt etwas Neues in die Welt. Eine Öffnung nach oben. Ein Bekenntnis zu einer schöpferischen Kraft, die nur in uns wirksam werden kann, wenn wir freiwillig das sichere Terrain der Eigenheit verlassen. Jemand, der offen und fragend durch das Leben geht, entwickelt eine Stärke, die nicht auf Unverletzbarkeit beruht, sondern in dem Mut zur Lücke, zur Schwäche, zur Unvollkommenheit, und welche das tiefste Wesen des Menschen bejaht.
Mit besten Grüßen für die Passions- und Osterzeit, auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen, Marcus Knausenberger
Gemeindebrief – Winter 2022 / 2023
Liebe Gemeinde,
mit der Geburt beginnen wir unseren Lebensweg auf der Erde, für den wir uns vielfältige Erfahrungen vorgenommen haben. Zuerst bedeutet das Geborenwerden, den Leib zu ergreifen und die Welt kennen zu lernen. Uns mit unseren geistigen Impulsen zu verbinden, sie zu erkennen und zu verwirklichen, prägt dann das weitere Leben jedes Menschen auf einzigartige Weise. Wir sind immer Werdende. Zu diesem Werden gehören all die Zweifel und inneren Sterbeprozesse dazu, die wir erfahren und ebenso das wunderbare Erlebnis, dass wir uns wieder neu finden und aufrichten können. In all diesen Erfahrungen begleiten uns geistige Wesen, und die Christuswesenheit ist unserem menschlichen Werden auf besondere Weise verbunden.
Die Adventszeit lädt uns dazu ein, innerlich hinein zu lauschen in die tiefe geistige Ruhe, die unser Leben umfängt. Sie beginnt in der lauschenden Seele zu klingen und lässt uns die nahende Geburt des Weihnachtslichtes erahnen. So bereiten die Adventswochen uns darauf vor, mit offenen Seelen dem Kommenden zu begegnen.
In der Heiligen Nacht wird die geistige Sonnenkraft unserem Erdendasein wiederum geschenkt, wird neu geboren. Aus ihr schöpfen wir heilende Kräfte für unser Leben. Diese zu bewahren und zu pflegen ist unsere Aufgabe als Menschen – nicht nur für unsere eigenen Wandlungsprozesse, sondern auch für alles, was wir in der Welt miteinander bewältigen und verwandeln wollen.
Ich wünsche Ihnen einen guten inneren Weg durch die Advents- und Weihnachtszeit und grüße Sie herzlich im Namen des Pfarrerkollegiums, Anke Nerlich
Gemeindebrief – Michaeli 2022
Liebe Gemeinde,
Wenn wir einmal auf die uns umgebende, belebte Natur schauen, sehen wir als ein großes Reich die Welt der Pflanzen vor uns. Es gibt eine Überfülle von Arten und Sorten, alleine schon beim Obst. Wir kennen hier bei uns nur eine kleinste Auswahl. Die Pflanzen leben ganz aus dem Vererbungsstrom, und so vielfältig sie auch sind, sich unterscheiden, z.B. eine Rose von der anderen, haben sie doch nichts Individuelles. Bei den Tieren kommt zur Vererbung noch die Sozialisation hinzu. Wie eine Katze aufwächst, in welcher Umgebung, welche Erfahrung sie macht, prägt sie und macht sie eigen. Dennoch gehören alle Katzen, so unterschiedlich sie sich auch darleben, doch der Gattung, der Art „Katze“ an.
Wie ist das bei uns Menschen? Auch wir gehören alle zur Gattung „Mensch“, haben einen Vererbungsstrom aus dem wir kommen, werden sozialisiert, geprägt durch die Menschen, die Umgebung, die Kultur, die äußeren Einflüsse, die wir erleben. Wir alle sind Menschen. Das eint uns. Rudolf Steiner spricht nun verschiedentlich darüber, dass aber jeder Mensch eine eigene Gattung ist, eine eigene Art. Dieser bahnbrechende Gedanke verändert eigentlich alles bisher Gewesene.
Letztlich schauen wir auf andere Menschen meistens ja aus unseren eigenen Erfahrungen, Vorstellungen und Idealen. So hört man öfter den Satz, dass dieser oder jener Mensch ganz vom Weg abgekommen sei – oder man gibt Ratschläge, die eben auch ganz aus dem Eigenen kommen: Würde er nur dies oder jenes anders machen, so würde er besser zurechtkommen, müsste nicht immer wieder scheitern, oder diese Fehler machen.
Im Beschäftigen mit den Biographien bekannter und unbekannter Persönlichkeiten kann einem manches aufgehen. Wenn man den „roten Faden“ eines Menschen durch sein Leben aufmerksam verfolgt, wie er aufwuchs, wie seine Vorfahren ihn prägten, sein Umfeld Einfluss genommen hat, wie er sich vielleicht dennoch ganz anders entwickelt hat, sein Leben gestaltet hat, Fehler begangen hat, daraus gelernt hat oder eben nicht, kann sich eine Spur seiner Individualität, seines Kerns, zeigen, der sich in seiner individuellen Biographie darlebt.
Die Frage: „Warum“ sich dieses oder jenes in seinem Schicksal ereignet, warum er Erfahrungen machen muss, Fehler und sog. Abirrungen erleben muss, kann zu der Frage: „Wozu“ verwandelt werden. Denn was durch jeden von uns Menschen offenbar werden soll, was der Einzelne zu entwickeln hat, kann so von außen gar nicht beurteilt werden (siehe der Blindgeborene im Johannesevangelium, Joh. 9,1).
Alles was ein Mensch getan und auch nicht getan hat, wie er dachte, aus welchen Idealen er lebte, ist einzigartig und kann nie verglichen werden. Jeder von uns ist fähig, Vererbung und Sozialisation zu überwinden, ganz andere Wege zu gehen, als die Vorfahren und Menschen in seiner Umgebung. Wir können frei werden von unserer Prägung. Es ist das Geheimnis des Ich, das sich in jedem von uns ausspricht und darlebt.
Um sich dem zunächst verborgenen Ich eines anderen Menschen annähern zu können, muss ich lernen, mich, man könnte sagen, zu „reinigen“. Alles zurück zu lassen, was ich selber denke, meine Vorstellungen, wie Leben geht, wie einer zu sein hat. Das ist eine allerhöchste Herausforderung, denn alles muss neu werden, oder besser: Alles muss durch das Nadelöhr hindurch! Und das ist richtig Arbeit, schmerzvoll, weil alles da hindurchmuss, alles zurückgelassen werden muss. Denn so vieles hindert uns, weil unsere Seele voll von Vorstellungen ist, wie etwas, jemand zu sein hat. Wie man sich verhalten muss, ob sich einer mehr anstrengen sollte, oder endlich mal weniger tun sollte.
Doch keiner kann aus diesen alten Vorstellungen heraus wissen, wie ein anderer Mensch zu sein hat. Durch die Katharsis, die Reinigung der eigenen Seele, durch Umschmelzen von eigenem Denken, von Empfindungen und Willensimpulsen, kann die Seele den freien Blick erüben, so auf seinen Menschenbruder zu schauen, dass sie vielleicht zart ahnen kann, wie der andere gemeint ist.
Fjodor M. Dostojewski hat es einmal so treffend formuliert: „Einen Menschen lieben heißt, ihn so sehen, wie Gott ihn gemeint hat.“
Bei all diesen Prozessen kann ein Gedanke helfen: Einer steht auf der anderen Seite des Nadelöhrs, spricht uns Mut zu, winkt uns herüber: Michael, dieses hierarchisch hohe Engelwesen, das uns Menschen so nahesteht, ruft uns in diesen herausfordernden Weltentagen im Großen wie im Kleinen Tag für Tag zu: Folge mir!
Vielleicht hat man das große Glück, dass man Mitstreiter im Leben findet, Menschen, die ganz anders auch auf diesem Weg sind, die ein Herz, ein Ohr für einen haben, für mein individuelles Schicksal. Denn auch wenn wir alle diesen Weg selber gehen müssen, so ist es doch eine große Gnade, wenn wir Weggefährten finden.
Möge unsere Gemeinde ein solcher Ort werden, wo wir ein ander Weggefährten sein können, uns Trost und Mut zusprechen, wo es eng und unerträglich scheint.
In diesem Sinne grüße ich Sie herzlich in alle Winkel unserer Gemeinde,
auch im Namen meiner Kollegen, Ihre Alexandra Messias
Gemeindebrief – Pfingsten Johanni 2022
Liebe Gemeinde,
ein wichtiges, wiederkehrendes Motiv in den Evangelien ist das Thema der Mitte. Jesus bleibt mit der Ehebrecherin allein in der Mitte, nachdem ihre Ankläger den Tempel verlassen haben. Der auferstandene Christus erscheint immer wieder „mitten unter den Jüngern“, wenn sie sich nach Ostern versammeln. Und auch Johannes greift dieses Thema in seiner Verkündigung zur Sinneswandlung auf: „Mitten unter euch wandelt einer, den ihr nicht kennt, und dessen Sandale zu öffnen ich nicht würdig bin“.
Was oder wer ist diese Mitte und wie können wir sie für uns verstehen? Stellen wir zunächst die Frage an uns selber: Wo oder was ist „meine“ Mitte? Fühle ich mich jetzt in meiner Mitte oder eher außerhalb ihrer? Was kann ich tun, um die Mitte meines Wesens aufzuspüren? Und dann – was hat diese Mitte mit meiner Verbindung zum Wesen des Christus zu tun? Gehen wir der Beschreibung des Evangeliums nach, so wird deutlich, dass die Mitte ein Ort des Versammelns oder schlichtweg nur des Sammelns ist. In der Mitte findet man sich einträchtig beisammen – versammelt als Teil eines Ganzen – entweder in Gemeinschaft mit anderen oder alleine. Wesentlich ist das Auftreten des Christus „mitten unter“. Die Mitte scheint ein Ort zu sein, der auf besondere Weise mit dem Christus in Zusammenhang steht.
Unsere Epistel in der Johannizeit erweitert den Blick auf die Mitte um eine weitere Dimension. Mit ihrem rhythmischdramatischen Wortlaut wird die Bedeutung der Mitte noch einmal gesteigert. Hier heißt der Raum, welcher mit dem Wesen des Christus verbunden ist, Welten-Mitte. Weiter heißt es, dass die allwaltende, allsegnende Kraft des Vaters in der Weltenmitte zur Christus-Sonne reift. Indem wir uns immer wieder sammeln – gemeinschaftlich und alleine – und die Mitte pflegen, nimmt sie eine Qualität auf, welche unsere Mitte zur Weltenmitte werden lässt.
Aber ebenso wenig, wie wir ein Licht um des Lichtes willen anzünden, sondern, weil es die Gegenstände des Raumes erhellt und sichtbar macht, so suchen wir die Mitte nicht um der Mitte willen auf, sondern weil die Christus-Sonne, welche selbst die Mitte ist, dadurch auf die Tatsachen unseres Lebenswegs leuchten mag.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine lichte Johannizeit, auch im Namen des Pfarrerkollegiums, Marcus Knausenberger